Serotonin ist ein wichtiger Botenstoff und Neurotransmitter. Seit 1965 vermuten Forscher einen Zusammenhang zwischen Depressionen und einem niedrigen Serotonin-Spiegel im Gehirn. Ab den 80er Jahren erhielt diese These mächtig Zulauf. Damals wurde eine neue Art von Antidepressiva entwickelt, die Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI). Sie bewirken, dass das im Gehirn ausgeschüttete Serotonin länger im synaptischen Spalt bleibt, die Empfängerzellen auf diese Weise länger stimuliert und nicht zu rasch wieder in die Zellen aufgenommen wird.
Unbewiesene These
Bis heute verbreitet die Pharmaindustrie zur Vermarktung ihrer Antidepressiva vom Typ der SSRI diese Botschaft: Depressionen beruhen auf einem gestörten Gleichgewicht im Gehirn und Antidepressiva beheben dieses. Nur hat die These einen entscheidenden Makel: Sie konnte bis heute in keiner einzigen Untersuchung nachgewiesen werden. Manche Depressive haben einen höheren Serotonin-Spiegel als Gesunde. Was ein normaler Wert ist, weiss niemand. Viele Forscher vermuten inzwischen, dass Serotonin höchstens indirekt mit Depressionen zu tun hat.
Damit ist nicht gesagt, dass ein gesunder Serotonin-Haushalt nicht wichtig wäre. Genau diesen bringen die Medikamente jedoch durcheinander. Man weiss seit Jahrzehnten, dass die Dichte der Serotonin-Andockstellen bereits nach einem Monat um 25% zurückgeht, wenn man ein SSRI einnimmt. Andere Forscher berichten, dass diese Rezeptoren bei chronischer Verabreichung um 50% abnehmen. Welche Folgen dies hat, ist bis heute ungeklärt. Klar ist nur: Anstatt ein hypothetisches Ungleichgewicht im Gehirn auszugleichen, verursachen die SSRI dieses erst. Vor der Behandlung ist unklar, ob das Serotoninsystem gestört ist. Während der Behandlung ist es mit Sicherheit verändert.
Kaum besser als Placebo
Hinzu kommt, dass die Wirkung der SSRI alles andere als unumstritten ist. Eine wichtige Übersichtsstudie konnte in 57% der Studien keinen Unterschied feststellen zwischen dem geprüften Medikament und einem Placebo (Scheinmedikament). Und 82% der Verbesserung, die man mit Antidepressiva erzielte, wurden auch mit dem Placebo erreicht. Nur in der kleinen Gruppe der schwerstdepressiven Patienten scheinen Antidepressiva überhaupt signifikant wirksamer zu sein als Placebo.
Trotzdem werden SSRI noch immer häufig verschrieben, auch bei leichten oder sogar sogenannt unterschwelligen Depressionen. Angesichts der Nebenwirkungen eine gefährliche Praxis. Noch zu den harmloseren gehören Störungen der Sexualfunktion, Schlaflosigkeit, Übelkeit oder Durchfall. Schon erschreckender ist das erhöhte Suizidrisiko: Vor allem bei Kindern und Jugendlichen kam es zu einem so hohen Anstieg der Suizidversuche während der Tabletteneinnahme, dass die Beipackzettel inzwischen davor warnen müssen. Immer wieder gibt es Berichte von wahnhaften Handlungen, die unter dem Einfluss der Tabletten vorgenommen werden. Und in den USA gibt es starke Hinweise darauf, dass die überragende Mehrheit der Massaker an Schulen unter dem Einfluss von Psychopharmaka verübt wurden. Nicht nur der bekannte Filmemacher Michael Moore ist der Ansicht, dass man diesen Zusammenhang schleunigst untersuchen müsste.
Antidepressiva führen zu Depressionen
Unterdessen wird vermutet, dass die Medikamente, welche Depressionen lindern sollten, überhaupt erst zur Epidemie psychiatrischer Erkrankungen beigetragen haben. Dies behauptet unter anderen der US-Wissenschaftsjournalist Robert Whitaker. Seine These in Kurzform: Viele Patienten werden wegen ursprünglich geringfügiger Beschwerden ohne Notwendigkeit mit SSRIs behandelt. Das mag kurzfristig zu einer Besserung der Symptome führen. Mit zunehmender Dauer der Behandlung steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass die biochemischen Prozesse des Gehirns nachhaltig aus dem Takt geraten. Es tritt ein Gewöhnungseffekt auf und die Wirkung der Medikamente nimmt ab. Oder es kommen in Form von Nebenwirkungen neue Symptome dazu. Die Pharmaspirale beginnt sich zu drehen. Im Jargon heisst es jeweils: „Der Patient muss neu eingestellt werden.“ Der italienische Psychiater Giovanni Fava meint dazu: „Antidepressiva mögen bei Depressionen kurzfristig nutzbringend sein, sie könnten den Verlauf der Krankheit aber langfristig verschlechtern.“ Auch in einem Kommentar in der Fachzeitschrift «Journal of Clinical Psychiatry» wird ausgesprochen, was selten offen diskutiert wird: «Der Langzeitgebrauch von Antidepressiva kann depressionsfördernd sein.»
Mit echter Anteilnahme begleiten
Was aber heisst das für die Betroffenen? Depressionen sind nicht harmlos und den Betroffenen muss geholfen werden. Studien haben gezeigt, dass Medikamente, Psychotherapie, soziale Unterstützung, Sport, Akupunktur oder Pseudobehandlungen alle etwa gleich gut nützen. Deshalb gibt es Forscher, die wie folgt argumentieren: Wenn so unterschiedliche Behandlungen ähnlich gut wirken, kommt es möglicherweise gar nicht darauf auf, was gegen Depressionen unternommen wird. Wichtig ist bloss, dass etwas unternommen wird. Sie greifen damit eine These auf, die der Psychiater Jerome Frank vor einem halben Jahrhundert entwickelt hat: Entscheidend sei, dass der Patient gründlich untersucht werde, eine Erklärung für sein Leiden erhalte, Hoffnung schöpfe und schliesslich ein therapeutisches Ritual mit einem anerkannten Experten praktiziere. Ob der Spezialist ein Medikament verschreibe oder Gespräche führe, sei hingegen unwichtig. Für uns Laien hiesse dies: Betroffene intensiv und mit echter Anteilnahme begleiten, zur Stimmungsaufhellung Aronia oder Pollen abgeben und auf eine nachhaltige Veränderung krankmachender Lebensumstände hinarbeiten. Hingegen sollte gerade bei leichten Depressionen auf Antidepressiva vom Typ SSRI verzichtet werden.
P.S: Psychopharmaka dürfen nicht in Eigenregie abgesetzt oder in der Dosis reduziert werden. Ein plötzliches Absetzen kann zu erheblichen psychischen und körperlichen Reaktionen führen. Wer eine bestehende Medikation anpassen will, muss das in Zusammenarbeit mit seinem Arzt tun.